Kinder und Jugendliche mit ME/CFS

„Unser Problem ist, bis Eltern uns finden vergeht zu viel Zeit, in der unwissende Ärzte die Familie - meistens die Mama - angreifen. Die Mamas sind dann schlichtweg fertig, und da ist die Sorge um das Kind noch gar nicht dabei.“ (Leiterin einer Selbsthilfegruppe)

ME/CFS hat bisher die meiste Aufmerksamkeit in der Beschreibung ihrer verheerenden Auswirkungen auf zuvor gesunde und produktive Erwachsene erfahren. Doch die Erkrankung trifft gerade auch Kinder und Jugendliche. Nach einer großen norwegischen Studie wird für den Beginn von ME/CFS ein erster Altersgipfel bei 10 -19 Jahren beschrieben. Die international geschätzte Prävalenz beträgt 0,3% (0,1-1,0%).1 Dabei sind Mädchen häufiger betroffen als Jungen. Laut einer britischen Studie leiden 51% der Schüler*innen mit langen Fehlzeiten in der Schule an ME/CFS.2 Eine Studie aus den USA gibt für ME/CFS bei Kindern eine Prävalenz von 0,75% an und stellt fest, dass weniger als 5% der Kinder die Diagnose erhalten hatten.3 In Deutschland sind nach Schätzungen mindestens 40.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren betroffen.

Wie wirkt sich ME/CFS bei Kindern und Jugendlichen aus?

So viele kleine Kinderseelen, die ihre Kindheit begrenzt oder so gut wie gar nicht genießen können; kein Fußball spielen mit Gleichaltrigen, raufen, toben, einfach Kind sein; die ersten Partys, der erste Freund, Teenager sein, auch das ist aufgrund von ME/CFS nicht möglich.
Es ist aber nicht nur alleine für die Kinder/Jugendlichen ein herber Einschnitt in ihr Leben, denn auch für die Eltern und die ganze Familie ist nichts mehr wie es vorher war.

Wie können Eltern die Krankheit erkennen?

Zunächst mal ist es für Eltern schwer, zu erkennen, was mit ihrem Kind los ist. So berichten Eltern zum Beispiel: „ihr Kind sei immer ermüdet“, oder dass „er/sie immer schläfrig und mürrisch sei oder nicht mit anderen Kindern in der Schule oder beim Spielen mithalten könne“.4 Plötzlich auftretende „Unlust“, sich mit Freund*innen zu treffen, vermehrter Rückzug, Vermeidung des Sportunterrichts, ungewöhnliche Reizbarkeit in Sachen Schule durch die Schwierigkeit, sich konzentrieren zu können…5 All diese Signale müssen erst mal verstanden und von anderen „normalen“ alltags- und altersüblichen Phasen und Stimmungen unterschieden werden.

Kinder und Jugendliche kommunizieren möglicherweise ihren verminderten Kräftezustand auch anders als Erwachsene, da er ihnen ebenso merkwürdig wie unerklärlich erscheint und sie ihr Befinden daher nur schwer einordnen und in Worte fassen können. Daher ist es für Familien wichtig, die Veränderungen im Aktivitätslevel zu erkennen.
Da allerdings weder Eltern noch Ärzte sich mit den Symptomen auskennen und nichts von Belastungsintoleranz und Post-Exertional-Malaise (PEM) wissen, wird die Krankheit von ihnen nicht erkannt, geschweige denn von Ärzten diagnostiziert.

Welche wahrnehmbaren Signale von ME/CFS gibt es für Eltern?6

  • wenn die Ressourcen und das Erleben der eigenen Kräfte (auf nicht nachvollziehbare Weise) nachlassen – plötzlich – oder auch schleichend,
  • wenn es immer schwieriger wird, den Anforderungen eines (Schul)-Alltags standzuhalten,
  • wenn instinktiv der Rückzug gesucht wird, da die Kräfte ein normales Freizeitverhalten nicht mehr zulassen,
  • wenn liebgewonnene Hobbies aufgegeben werden (müssen),
  • wenn die Kommunikation und die Kontaktpflege mit Gleichaltrigen immer schwerer wird,
  • wenn (Zukunfts-)Perspektiven aufgegeben werden müssen und in sich zusammenfallen,
  • wenn das Erleben von „ich schaffe das – ich kann das – das Leben ist für mich bewältigbar“ immer brüchiger wird,
  • wenn die Außenerfahrungen immer weniger werden,
  • wenn Schmerzen anhalten oder immer wieder kehren, z.B. Kopf- oder Muskelschmerzen,
  • wenn Niedergeschlagenheit oder Ängste wahrnehmbar werden:
    • als Folgen und Begleiterscheinungen des erschreckenden Verlusts an Kraft und Vitalität und
    • als Reaktion auf Hilflosigkeit und Überforderung angesichts des Einbruchs des bisherigen Lebens und dem zunehmenden Schwinden bisheriger Gewissheiten und gewohnter Zuversicht.

Schweregrad und Schulfehlzeiten

Der Schweregrad des pädiatrischen ME/CFS variiert von leichten Formen, die mit einem Schulbesuch vereinbar sind, bis hin zu schweren Formen mit Rollstuhl-Abhängigkeit oder Bettlägrigkeit. Da die Belastbarkeit häufig morgens schlecht ist und ihre Schwankungen schwer vorhersehbar sind, gestaltet sich eine regelmäßige Beschulung schwierig bis unmöglich.7
„Die meisten erkrankten Kinder und Jugendlichen sind hoch motiviert und möchten am Unterricht uneingeschränkt teilnehmen können. Dennoch geht vielen von ihnen über kurz oder lang die dafür nötige Energie verloren.“8 Neben der Einschränkung bzw. dem Abbruch der sozialen Kontakte mit Freunden aus ihrer Freizeit leiden ME/CFS betroffene Kinder und Jugendliche besonders unter lang andauernden Schulfehlzeiten. Manche Kinder können nur mit Schwierigkeiten oder gar nicht mehr am Schulprogramm teilnehmen, sodass Bildung und Ausbildung gefährdet sind. Oft müssen zusammen mit Schule und Lehrkräften individuelle Strategien erarbeitet werden, die schulische Bildung zu planen und anzupassen (z.B. Unterricht zu Hause).9 „Abhängig vom Schweregrad des CFS sind Nachteilsausgleich, Hausunterricht und individuelle Sonderregeln an Schule und Ausbildungsplatz sinnvoll, eventuell auch internetbasierter Schulunterreicht und/oder robotergestützte Lernhilfen. Auf regelmäßige positive Erlebnisse und altersgemäße soziale Kontakte sollte aktiv geachtet werden.“10

Prognose

„Kein Kind, keine Familie und keine Gemeinde ist gegenüber den Problemen gefeit, die mit ME/CFS bei Kindern und Jugendlichen verbunden sind. Aber eine genaue und rechtzeitige Diagnose der Krankheit, gefolgt von umfassender Unterstützung und (einer symptomorientierten) Behandlung, kann sehr wohl die Erholungsraten für alle Kinder und Jugendlichen mit dieser lähmenden Erkrankung erhöhen. Generell haben Kinder und Jugendliche eine günstigere Prognose als Erwachsene.“11 Eine frühe Diagnose könnte viele der Zustandsverschlechterungen bestmöglich abwenden oder zumindest erheblich lindern!12

„Eine australische Verlaufsbeobachtung an fast 700 pädiatrischen Patienten mit CFS zeigte Remissionsraten von 38 % bzw. 68 % (der jungen Patientinnen und Patienten) nach 5 bzw. 10 Jahren.13 Die mittlere Krankheitsdauer bei Patient*innen, die sich erholt hatten, lag in dieser Studie bei 5 Jahren (1–15); 5 % waren nach 10 Jahren noch schwer krank. Von den Betroffenen als prognostisch wichtig eingeschätzt wurden, neben bestmöglicher Symptomkontrolle und schulischer und sozialer Unterstützung, die Anleitung zu einem altersgemäßen Selbstmanagement sowie die empathische Akzeptanz durch das Behandlungsteam.“14
„Als erheblicher Stressfaktor im Krankheitsverlauf wurden Unverständnis und fehlende Flexibilität von Ausbildungsinstitutionen empfunden.“15

Frau Prof. Scheibenbogen und Frau Prof. Behrends, die bundesweit durch ihren engagierten und unermüdlichen Einsatz zur Behandlung und Erforschung von ME/CFS bekannt geworden sind, haben dies umfassend in ihren Behandlungskonzepten aufgenommen:

„Das aktuelle Behandlungskonzept umfasst eine ausführliche Beratung sowie eine engmaschige, engagierte symptomorientierte Therapie und psychosoziale Unterstützung. Die jungen Patienten und ihre Sorgeberechtigten werden darin trainiert, die Grenzen der individuellen Energiereserven zu erkennen, mit diesen Schritt zu halten („Pacing“) und Überlastung zu vermeiden. Entspannungstechniken sind hilfreich. Mangelzustände sollten ausgeglichen, Infektionen und Allergien behandelt, Schmerzen und Schlafstörungen gelindert, der Kreislauf unterstützt und die Ernährung gegebenenfalls angepasst werden. Viele Patienten profitieren von einer achtsamen manuellen Therapie und psychologischen Begleitung. Die rechtzeitige Beantragung von Hilfsmitteln und weiteren sozialmedizinischen Maßnahmen tragen zur Entlastung bei.“16

Verschlechterung durch fehlende oder falsche Diagnose17

Eine fehlende oder falsche Diagnose führt dazu, dass sowohl Eltern als auch die betroffenen Kinder gegen die Symptomatik und die zunehmende Kraftlosigkeit und Schwäche ankämpfen und damit die individuellen Belastungsgrenzen andauernd überschreiten, was (sehr oft) eine zunehmende Verschlimmerung der Symptome und eine Verschlechterung des Gesamtzustandes zur Folge hat.
Da körperliche Untersuchungen ergebnislos, „ohne Befund“ bleiben und eine Diagnose der Erkrankung aus Unkenntnis nicht gegeben wird, werden psychische Ursachen wie z.B. Schulphobie oder Depressionen angenommen, unterstellt und immer weiter ins Feld geführt. Die fehlende Diagnose von ME/CFS und falsche psychologisierende Erklärungen verstärken Skepsis und Misstrauen gegenüber den erkrankten Kindern. Eine klare, exakte Diagnose wäre eine Befreiung von der mentalen Last des (schuldhaften) Versagens der Kinder und Eltern und ihrer Bedrohung durch Medizin und Behörden.
Eine solche Diagnose kann inzwischen zielgerichtet anhand der Kanadischen Konsenskriterien (CCC) gegeben werden und wird nicht mehr als Ausschlussdiagnose angesehen.18 Sofern Ärzte diese Möglichkeit zur Diagnose anwenden würden, wäre es eine erhebliche Erleichterung für alle Beteiligten.

Leider folgt jedoch meist eine jahrelange Ärzte-Odyssee mit häufigen Fehldiagnosen, Fehlbehandlungen und Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken, deren Ärzte ME/CFS verharmlosen und leugnen und deren Mobilisierungs- und Aktivierungsstrategien zu einer (anhaltenden) Zustandsverschlechterung führen, die die körperliche Unversehrtheit des Kindes und das Kindeswohl ernsthaft gefährden.19
Aufgrund dieses immer noch vorherrschenden Versagens der Medizin wird der Kontakt zu Patientenorganisationen und Selbsthilfegruppen für Mütter und Väter eminent wichtig (Kontaktdaten siehe Startseite).

Die Folgen fehlender Information bei Ärzten

Mit der Unkenntnis bezüglich ME/CFS und seinem komplexen Krankheitsbild gehen Menschen verschieden um. Dies trifft sowohl für Familienmitglieder und Freunde als auch für Vertreter*innen von Ämtern, Behörden, Schulen, Gerichten und insbesondere für Ärzte zu, die aufgrund ihrer wichtigen Schlüsselfunktion als Gutachter und Behandler wichtige Weichen im Krankheitsverlauf stellen - zum Guten wie zum Schlechten:

Leider geht ein Großteil der Ärzte auf Distanz, verzichtet auf (weitere) Diagnostik und Behandlungsversuche. Viele folgen einer fragwürdigen und ungeschriebenen Tradition, dass diffuse Beschwerden und ungeklärte Krankheitsbedingungen Indizien für psychische Störungen sind, wie z.B. Depressionen oder Schulängste.

Im Gegensatz zu Jugendlichen mit primären Depressionen und damit einhergehender Passivität sehnen sich die ME/CFS-betroffenen Kinder und Jugendlichen geradezu nach mehr Aktivität und sind hochmotiviert, ihr gesundes Leben zurückzugewinnen.20 Das wäre für Ärzte eigentlich ohne jede Mühe feststellbar. Anstatt aber dies schlicht wahrzunehmen und zu respektieren, diskreditieren sie die jungen Patientinnen und Patienten als Hypochonder oder Simulanten. Mütter berichten immer wieder, dass sich ihre Kinder beim Verlassen des Kinderarztes beschweren: „Mama, der hat mir nicht geglaubt!“21

Und schließlich wird den Müttern das sogenannte Münchhausen-by-proxy-Syndrom unterstellt (vgl. nächster Absatz: Pathologisierung). Andere stellen die von ME/CFS-Experten gestellten Diagnosen immer wieder in Frage und überhäufen die Betroffenen mit unnützen, kraftraubenden Untersuchungen und bestehen auf stationäre Diagnosemarathons, die den ME/CFS-Erkrankten letztlich nur schaden.
Ganz abgesehen davon existieren keine auf ME/CFS spezialisierten Abteilungen und Ambulanzen (Ausnahme: Charité in Berlin) in deutschen Kliniken und schwer- und schwersterkrankte ME/CFS-Patienten würden keinen Transport in ein Krankenhaus ohne Verschlechterungen der Symptome tolerieren. Nur wenige Ärzte halten den Konflikt aus und vermeiden die Flucht in voreilige Sicherheiten.22

Auf ihrer Website Beatrice Bucher, Lebenszeit - Leben mit ME-CFS beschreibt die selbst betroffene Beatrice Bucher Umgang und Reaktionen von Menschen im Umfeld, Behördenvertreter*innen und insbesondere von Ärztinnen und Ärzten gegenüber ME/CFS-Erkrankten:

„Was macht ein Mensch (z.B. Sachbearbeiter*in oder Ärzt*in):

  • der überfordert ist… Er neigt zur Abwertung.
  • der zu wenig Informationen hat… Er neigt zur Fehleinschätzung.
  • der unbedingt helfen will und Ergebnisse sehen will… Er schießt über das Ziel hinaus.
  • der eine sofortige Lösung braucht… Er riskiert mit Krankenhauseinweisung eine weitere Verschlechterung.
  • der ME/CFS als psychische Erkrankung sieht… Er verschreibt Psychopharmaka.
  • der unbedingt einen Schuldigen oder eine Ursache braucht… Er geht gegen die Erziehungspersonen.
  • der keine Zeit hat… Er kann nicht genau hinsehen.
  • der kein Leid ertragen kann… Er kann nicht genau hinhören.
  • der alte Paradigmen nicht in Frage stellen kann… Er lässt keine neuen Informationen zu.
  • der sich hilflos fühlt… Er gibt den Patienten auf.“23

In Klammern fügt Beatrice Bucher hinzu:
„Es tut mir leid – ich versuche in meinen Texten konstruktiv zu sein…aber was hier vom medizinischen System - großflächig, nicht überall!!! – den Familien und den Betroffenen angetan wird, anstatt den Zustand zu verbessern und mit den jeweiligen Kräften – nach Lösungen und Wegen zu suchen, macht mich traurig, wütend und hilflos.
Hier jedoch auch einen großen Dank an all jene im medizinischen und pflegerischen Bereich – die auch für sie Unbekanntes nicht in Frage stellen…die die Würde des Menschen (Patienten) achten und versuchen soweit sie das können – seine/ihre (erzwungene) Lebensweise zu verstehen und zu verbessern.“24

Psychopathologisierung - „Münchhausen-by-Proxy-Syndrom“25

Statt Unterstützung zu bekommen, sind Konflikte der Eltern mit den Behörden vorprogrammiert. Sie werden häufig mit einschneidenden gerichtlichen Maßnahmen konfrontiert. In manchen Fällen wird der Schulbesuch gerichtlich erzwungen, in anderen Fällen werden umstrittene und schädigende Behandlungen aufoktroyiert.26 Das ist schwer zu verstehen, denn bis zum heutigen Tag gibt es keine anerkannte Therapie für ME/CFS; dann kann es eigentlich auch keine medizinische oder rechtliche Begründung dafür geben, sogenannte „Therapien“ zu erzwingen. Trotzdem müssen „Familien von ME/CFS-erkrankten Kindern ... immer wiederkehrende Auseinandersetzungen mit Schulbehörden und Jugendämtern führen.“27

Anstatt den schweren Krankheitssymptomen der jungen Patient*innen durch Kompetenz, Kenntnis und Anerkennung der Krankheit endlich Legitimität zu verschaffen und die Betroffenen von ihrem „sekundären Leid“, ausgelöst durch falsche Zuschreibungen und die Leugnung ihres tatsächlichen Zustands, zu erlösen, werden aufgrund des verfestigten Misstrauens die bekannten Fehldiagnosen, wie funktionelle, nicht spezifische, ungeklärte oder somatoforme Störungen, (lavierte) Depression oder Schulverweigerung und Schulangst aus dem „diagnostischen Abfalleimer“ der Medizin genutzt, um die eigene Unkenntnis und Hilflosigkeit zu überdecken und nicht wahrnehmen zu müssen.

Wenn Eltern sich dann gezwungenermaßen gegen behördliche Maßnahmen stellen, um Schaden von ihrem Kind abzuwenden (z.B. bei Verschlechterung durch Aktivierung und/oder mangelnde Einhaltung des erforderlichen Pacings), werden sie - meist trifft es die Mütter - häufig nicht ernst genommen und schlecht behandelt. Ihnen wird genauso misstraut, wie der Krankheit misstraut wird:

Mütter werden abqualifiziert: Ihnen wird unterstellt, ihre Kinder zu vernachlässigen, sie zu schädigen und zu missbrauchen, oder sie werden als „Helikoptermutter“, „Hotel Mama“ oder durch Unterstellung des „Münchhausen-by-proxy-Syndroms“ herabgesetzt und diffamiert, eine Art moderner „Hexenjagd“, ein sowohl für Mütter, Väter und die Kinder zusätzlich traumatisches Erlebnis.28

„Oft kommt es zu dem Paradox, dass sie (die Mütter) umso mehr angezweifelt werden, je schwerwiegender die Symptome sind. Dies kann gerade für Familien mit schwer erkrankten Kindern zu massiven sozialrechtlichen Problemen führen. Im Gegensatz zu anderen Erkrankungen erhalten bei ME/CFS die schwer und schwerst Betroffenen am wenigsten medizinische und soziale Versorgung – es ist beispielsweise nicht ungewöhnlich, dass Hausbesuche bei der Diagnose verweigert werden und sie keine ärztliche Betreuung erhalten. Im Regelfall müssen Angehörige ihren Beruf (und ihr soziales Leben) aufgeben, um die Pflege zu übernehmen.“29

Aus einem Schreiben einer verzweifelten Mutter an einen Politiker:

„Mein Kind [Julia, Name geändert] hat ME/CFS und es wird selbst nach der Diagnose [noch] verhöhnt […].
[Sie hat] regelmäßige Crash's, die man seinem schlimmsten Feind nicht wünscht. 24/7 komplett bettlägerig. Unmöglich das Haus zu verlassen.“

„Es interessiert niemanden. Und wir sind laut. Wir werden nie wieder still sein. Wir haben einen MdB um Hilfe gebeten, er ist an die diversen Landkreise herangetreten, die auf die Mütter eine Hexenjagd veranstaltet haben und wo Schulämter gedroht haben. Warum? Weil die Kliniken leugnen, dass es ME/CFS gibt. Und somit haben Sie ein schwerst krankes Kind ohne jegliche ärztliche Betreuung.“

„Bei jeder Erkrankung egal ob Krebs, Schlaganfall, Herzinfarkt oder … gibt es einen klaren Ablauf in den Kliniken. Bei ME/CFS auch: Leugnen, Lachen, Verhöhnen, psychische wirre Erklärungen finden. Bei mir war übrigens `verhaltensauffällig': ein Arztordner mit allen Berichten, dass mein [anderes, älteres Kind] […] noch zu Hause wohnt und dass wir keinen Pflegedienst wollen. So, [dieses Kind] zieht in 7 Wochen aus, können wir dann auf eine Heilung hoffen? (Ironie)“
„Da die […] Uniklinik […] G93.3 leugnete und mir erklärte das [gebe] es nicht, haben wir Jahre erlebt, die [ich] auch meinem schlimmsten Feind nicht wünsche. Klare Ansage: `Münchhausenmama mit schwerst psychisch gestörten Kind' (entgegen der Psychologin, die sich klar positionierte, das hätte keinen psychischen Ursprung).“

„[Kliniken haben] uns dann auch abgesagt, [eine Klinik] drohte mit [dem] Jugendamt. […] [In einer anderen Klinik] wurden wir nach einer Woche mit den Worten von Prof. .... entlassen: `Wenn ich die rechtliche Handhabe hätte würde [ich Sie] (Mama) zwangseinweisen und Julia auch!' […] Zu Julia gewandt: `Du bist ganz arg krank im Kopf. Du musst in Gruppengespräche, du hast kein Leben mehr. Du bist sehr krank im Kopf.' Julia war einem Crash nahe […].“

„Warum dürfen Ärzte und Kliniken leugnen, dass es die Erkrankung gibt. Nein, wir sind kein Einzelfall.“

„Mir war nicht bewusst, dass dies in Deutschland möglich ist. Ein Kind verliert sein Leben und man bekommt keine ärztliche Hilfe, man muss sich um Rechtsanwälte kümmern und [sich] im Schnelldurchlauf […] medizinische Grundkenntnisse aneignen. Nein, mein Kind ist kein Einzelfall.

Auf eine Rückmeldung wartend. Nein, Sie werden mir bitte nicht schreiben, wie es Ihnen Leid tut, was wir alle erleben müssen, nein Sie werden mir bitte nicht schreiben, es gäbe doch genug Anlaufstellen, nein Sie werden mir bitte nicht ein 08/15 Schreiben als Rückantwort geben.

Bitte ändern Sie was.“

Der Verweis auf „gestörte Eltern“, wie z.B. die Annahme des Münchhausen-by-proxy-Syndroms entbehrt in allen uns bekannten Fällen jeglicher Grundlage. Sie sind eine Folge der uneingestandenen Hilflosigkeit der Ärzte und Gutachter und ihrer aus Unkenntnis getroffenen Aussagen und Entscheidungen.

Die Eltern sind gezwungen „im Interesse der Gesundheit ihres Kindes ständig Kompromisse auszuhandeln, während sie gleichzeitig gegen ein System kämpfen müssen, in dem es kein Verständnis und keine Anerkennung der Krankheit ... gibt“30, eine traumatisierende Situation von Psychoterror und Gaslighting.31 Die entscheidenden Empfehlungen an in dieser Weise bedrohte Familien ist die Hinzuziehung eines erfahrenen Rechtsbeistandes und die Kontaktaufnahme mit einer der (Eltern-)Selbsthilfegruppen (vgl. Startseite).

Eltern müssen vor ihren kranken Kindern stark sein, müssen sie aufbauen, ihnen Halt geben können und bei hohem Schweregrad der Krankheit das Kind auch pflegen - dafür gibt meist die Mutter ihre Berufstätigkeit ganz oder teilweise auf.32 Die Angriffe und Herabsetzungen gegenüber der Familie, insbesondere gegenüber den Müttern, sind alleine schon deshalb in höchstem Maße Unrecht und zusätzlich extrem belastend.

All das muss von den Eltern aufgefangen werden, um weiteren Schaden von dem erkrankten Kind abzuwenden. Es bindet wichtige Kräfte, die in der Familie für die Bewältigung der ohnehin schwierigen und angespannten Situation dringend benötigt würden. Dazu bedarf es eines umfassenden Netzes an Unterstützungen, Versorgung und Betreuung ohne Stigmatisierung, das den Familien die dringend notwendige Entlastung ermöglicht.

ME/CFS-Kranke brauchen Ärzte

Die zentrale Säule eines solchen Netzwerks ist natürlich eine adäquate medizinische Versorgung und die Anerkennung der Erkrankung in der Schule, bei Jugendämtern und den Gerichten. Es ist noch ein langer Weg bis ME/CFS Betroffene in jeder Praxis und jeder Klinik ganz selbstverständlich diagnostiziert, beraten und therapiert werden können, und es wird großer Anstrengungen bedürfen, einen solchen Paradigmenwechsel zu erreichen. Doch gibt es hoffnungsvolle Zeichen, so waren die Ärztefortbildungen der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS im letzten Jahr ausgebucht und bei der Erforschung des Long-COVID-Präparats BC 007 werden ME/CFS-Erkrankte durch das Forscherteam an der Uniklinik Erlangen um Frau Dr. Hohberger aktiv einbezogen.

Da Ärztinnen und Ärzte Informationen zu ME/CFS über ihre geregelten und regelmäßigen Weiterbildungsmaßnahmen nicht zur Verfügung stehen, bietet die Deutsche Gesellschaft ihre CME-zertifizierte Fortbildung inzwischen on demand an. Die Fortbildung wurde gemeinsam mit der Charité Berlin und der Technischen Universität München zur Behandlung von ME/CFS und Post-COVID-ME/CFS erstellt und bietet Hinweise zur Diagnostik, Ansätze für eine symptomatische Therapie und die akkreditierte Videofortbildung.

Die Erkrankten brauchen Ärzte und Therapeuten, um Erleichterung und Besserungen zu erreichen und um die Krankheit vielleicht eines Tages zu bewältigen. Sie brauchen Ärzte, die ihnen trotz ungeklärter Ätiologie und fehlender Standardtherapien auf unsicherer Basis und mit teilweise begrenzten Mitteln wenigstens versuchen zu helfen.33 Betroffene und ihre Familien sollten daher die behandelnden Ärzte bitten, die Online-Fortbildung der Deutschen Gesellschaft zu nutzen; hier der Link:
www.mecfs.de/was-ist-me-cfs/informationen-fuer-aerztinnen-und-aerzte/

  1. Bakken et al. (2014): Two age peaks in the incidence of chronic fatigue syndrome/myalgic encephalomyelitis: a population-based registry study from Norway 2008–2012, BMC Medicine 12:167, DOI: 10.1186/s12916-014-0167-5;
    zitiert nach: Wir wollen unser Leben zurück (Petition an den Bundesminister der Gesundheit), Katharina Voss.
  2. Dowsett E., Colby J. (1996): Long Term Sickness Absence due to ME/CFS in UK Schools: An Epidemiological Study With Medical and Educational Implications, Journal of Chronic Fatigue Syndrome 1997, 3: 29-42, URL: www.tymestrust.org/pdfs/dowsettcolby.pdf;
    zitiert nach: Wir wollen unser Leben zurück (Petition an den Bundesminister der Gesundheit), Katharina Voss.
  3. Jason L. A. et al (2020, August): The prevalence of pediatric myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome in a community-based sample, Child & Youth Care Forum (Vol. 49, No. 4, pp. 563-579), Springer US, DOI: 10.1007/s10566-019-09543-3.
  4. Beratung und Behandlung von ME/CFS bei Kindern und Jugendlichen und deren Beschulung (Myalgischer Enzephalomyelitis - Chronic Fatigue Syndrom), Lost Voices Stiftung (Abruf 01.12.2021).
  5. ME-CFS bei Kindern und Jugendlichen, Lebenszeit - Leben mit ME-CFS + MCS.
  6. Vgl. 5. (Lebenszeit: ME-CFS bei Kindern ...).
  7. Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS), Scheibenbogen, Kedor, Behrends in: der niedergelassene arzt, 12/2020, S. 75.
  8. ME/CFS bei Kindern und Jugendlichen, Reiter "Schulbesuch und Ausbildung", Fatigatio e.V. (Abruf: Nov. 2021).
  9. Aufklärung, Lost Voices Stiftung
  10. Das Chronische Fatigue-Syndrom (CFS) bei Kindern und Jugendlichen (Fachartikel), Verena Kraus, Katrin Gerrer und Uta Behrends.
  11. CFS bei Kindern und Jugendlichen, S. 10, Leonard Jason und Nicole Porten.
  12. Siehe 10. (Kraus, Gerrer, Behrends: Das Chronische ...).
  13. Rowe K.S. (2019): Long Term Follow up of Young People With Chronic Fatigue Syndrome Attending a Pediatric Outpatient Service, Front Pediatr. 7:21, DOI: 10.3389/fped.2019.00021.
  14. Siehe 7. (Scheibenbogen, Kedor, Behrends: Chronisches ...), S. 76.
  15. Siehe: 13. (Rowe: Long Term Follow up of Young People ...).
  16. i. Scheibenbogen C, Wittke K, Hanitsch L, Grabowski P und Behrends U (2019): Chronisches Fatigue-Syndrom/CFS: Praktische Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie, Ärzteblatt Sachsen, URL: www.aerzteblatt-sachsen.de/pdf/sax1909_026.pdf.
    ii. Siehe 10. (Kraus, Gerrer, Behrends: Das Chronische ...), S. 7.
  17. i. Siehe 9. (Lost Voices: Aufklärung).
    ii. Für eine Diagnosestellung bei Kindern und Jugendlichen ist statt einer sechsmonatigen „nur“ eine dreimonatige Symptomdauer erforderlich. Siehe 4. (Lost Voices: Beratung und Behandlung ...).
  18. Was ist Long COVID?, Deutsche Gesellschaft für ME/CFS (Abruf 09.01.2022).
  19. Kinder mit chronischem Fatiguesyndrom nach wie vor unterversorgt (10.05.2014), Beatrice Hamberger, Gesundheitsstadt Berlin e.V.
  20. Siehe 10. (Kraus, Gerrer, Behrends: Das Chronische ...), S. 7.
  21. Vgl. Wenn Kinder an Long-Covid leiden, MDR Investigativ.
  22. Siehe 4. (Lost Voices: Beratung und Behandlung ...), S. 5.
  23. Siehe 5. (Lebenszeit: ME-CFS bei Kindern ...).
  24. Siehe 5. (Lebenszeit: ME-CFS bei Kindern ...).
  25. „Das Münchhausen-Syndrom gehört zu den sogenannten artifiziellen (künstlichen) Störungen. Patienten mit dieser Störung leiden nicht an einer körperlichen Erkrankung, sondern erfinden ihre Symptome.Um die erfundene Krankheit glaubwürdiger erscheinen zu lassen, fügen sich Betroffene oft selbst Schaden zu, wenn sie am Münchhausen-Syndrom leiden. „By proxy“ deutet als Einschub an, dass der Betroffene die Erkrankung nicht bei sich selbst, sondern bei einer nahestehenden Person vortäuscht oder sie aktiv erzeugt, im Fachjargon heißt dieser Form entsprechend Münchhausen-by-proxy-Syndrom, aber auch Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom oder Stellvertreter-Hypochondrie-Syndrom). Meist handelt es sich bei der nahestehenden Person um das eigene Kind. Wichtig: Eine Krankheit bei ihm vorzutäuschen oder zu erzeugen, gilt als eine Form der Kindesmisshandlung, auch, weil das Kind immer wieder zum Arzt muss und der leitet vielleicht eine Behandlung ein, derer es gar nicht bedarf.“ (Was ist das Münchhausen-Syndrom, Focus-Arztsuche)
  26. Kinder und Jugendliche mit ME/CFS, Jenny, ME-CFS-Portal (Abruf 14.12.2021).
  27. Siehe 4. (Lost Voices: Beratung und Behandlung ...), S. 4.
  28. Rowe P.C. et al (2017): Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome Diagnosis and Management in Young People: A Primer, DOI: 10.3389/fped.2017.00121.
  29. ME/CFS – News Update 08/2018, Deutsche Gesellschaft für ME/CFS.
  30. Siehe: 11. (Jason, Porten: CFS bei Kindern...), S. 3, 4.
  31. Von „Gaslighting“ spricht man, wenn jemand versucht, einen anderen Menschen gezielt zu verunsichern – bis zum völligen Zusammenbruch. Das Opfer kann schließlich nicht mehr zwischen Wahrheit und Schein unterscheiden. Namensgeber ist das Theaterstück „Gas Light“ von 1938. Vgl. Gaslighting (Wikipedia-Artikel).
  32. Siehe 26. (Jenny: Kinder und Jugendliche mit ME/CFS).
  33. Siehe 4. (Lost Voices: Beratung und Behandlung ...), S. 5.

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